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Ausstellung 2011
Schnittstelle / Filme
Die Knochenrose ist dornenlos
 


Ausstellung 2011

Die Welt ist mehr als das, was Google Street View zeigt. Das, was wirklich zählt, ist nicht zählbar. Christiane Gerlach führt uns diese Einsicht in einer Reihe von Arbeiten vor Augen, die den Raum mit den Echos der Geschichte erfüllen. Ihre "Schnittstellen" verbinden individuelle Erfahrungen mit den großen Themen der Kulturgeschichte auf eine höchst eigenwillige Weise. Da versammeln sich Meissner-Figuren aus dem Familienbesitz zum Rendezvous auf der Töpferscheibe, und da liegen die Köpfe eines womöglich mittelalterlichen Königspaars in einem pseudobarocken Rahmen auf dem Boden. Die Dinge entfalten ein Eigenleben. "Ihr Blickwispern" (Walter Benjamin) zwingt uns zu einer erhöhten Aufmerksamkeit im Sehen und Denken. Gerlachs Kunst ist materiell. Sie bezieht sich auf Köper in Raum und Zeit und damit auch auf Traditionen. Sie ist das, was bleibt, wenn alle SMS gelöscht und alle Mails beantwortet wurden (Rainer Unruh, Kunstkritiker).

Schnittstellen meint die Berührungspunkte der einzelnen Arbeiten unter einander, Teilaspekte wie das Lächeln der "Königskinder". Ihre Gesichter (s.o. face) haben mich berührt.

Sie tragen Kronen, die formal und inhaltlich das Kronenobjekt berühren. Stellt man die Krone auf ein Dreibein bekommt sie einen eigenen körperhaften Ausdruck, wird zum Wesen.

Der Altarblumenhalter beleuchtet das Objekt von unten, eine sakrale Stimmung entsteht. Auch werden sie zu Herzhaltern= Herzurnen und weisen auf herrschaftliche Beerdigungsriten -gerade auch im Barock praktiziert- hin. Herzen werden dann außerhalb der eigentlichen Grabstätte an anderen, oftmals vom Verstorbenen gewünschten Orten, beigesetzt. "Mein Herz liegt in...."

Bestattungsriten sind die Schnittstelle zum Barockrahmen, der aus der Silhouette des Edithasarkophags entstanden ist. Der Tod Edithas trennt das erste politische Liebespaar der deutschen Geschichte früh. Edhitas Grab wurde nach Jahrhunderten durch Knochen- und Zahnanalyse in Magdeburg identifiziert. Auch Venus und Apoll, die Morgen/Abendstern und Sonne vertretend, sind nie zueinander gekommen. Das Kleinhirn vereinigt beide Formen zu einem Hermaphroditen, je nach Lage ist die weibliche oder die männliche Seite sichtbar.

Im Sarkophagrahmen liegen sie wie fragmentierte Grabskulpturen nebeneinander.

Alpenveilchenköpfe, in der Form an Papstkronen erinnernd, liegen irreal vergrößert als unbekannte Art aus einer Wunderkammer als Grabbeigabe daneben.

Die versteinerte Knochenrose verbindet Reliquien, Grabbeigabe, Wunder, DNA Entschlüsselung und archäologische Neuentdeckung.

Schnittstelle ist der Berührungspunkt als Reiserelikte.




"Kunst muss mich berühren!"

Alle Objekte und Skulpturen der Ausstellung haben einen Berührungspunkt zum Anlass gehabt.

Das Lächeln zweier Skulpturen im Schloss von Straa. Abgestellt in einem Innenhof unter vielen, durch Säulen schauend, den Betrachter beobachtend. Dieser geschichtsträchtige Ort. Ich habe mich gefragt, ob sie auch Napoleon, die italienischen Könige, Mussolini und Hitler so angelächelt haben wie mich.

Die Krone mit Negativform, die Zwischenschicht der Gelantineform fehlend, verstaubt und rätselhaft in ihrem ursprünglichen Zweck, auf dem Tisch eines Antikenhandels in Florenz. Auch hier ein Foto wird zur Gegenwart der Vergangenheit, um in der Zukunft neu erstellt zu werden. Den Kreislauf zur Vergangenheit herstellend. Die Todesnachricht des Schwagers bricht die Reise ab.

Alpenveilchen in Rom, die statt der heimatlich gewohnten Stiefmütterchen in jeder noch so kargen Ecke den italienischen Frühling beherrschen. Die Köpfe geneigt, wie ins Gespräch vertieft. Geschlossen und aufrecht sprechen sie nicht miteinander, sie ähneln der Papstkrone.

Altarblumen bei e-bay verpasst, die Ersteigerungsniederlage kompensierend, mit Kerzen Erinnerung an südliche Friedhöfe und Kircheninnenräume, die mit tausend knöchernen Reliquien bestückt sind.

In Pisa stehen kunstvolle Reliquienschreine, wie kleine Barockvitrinen gearbeitet, die Knochen mit Gold und Edelsteinen zu floralen Arrangements zusammengewachsen.

Den ursprünglichen Körpern entrissen, abgetrennt, wie Edithas Hände und Kiefer und Galileis Zeigefinger, der sagt aus seinem vasenhaften Gefäß: "..und die Erde dreht sich doch!"

Weiter und weiter, in Wiederholungen für alle Königskinder, "die zusammen nicht konnten sein". Es bleibt die Erinnerung als Bildnis, Reliquie, Grabstätte oder Scherenschnitt. Und heute? Es gibt sie auch heute noch die Königskinder aus materiellen, familiären und religiösen Gründen.

Die Kopffragmente aus den Gobelins des Plöner Schlosses erzählen die alten Geschichten der Antike in der Sprache des Barock, die Gesichter wirken wie aus Disneyfilmen entsprungen. Androgyn die Männer, ähnlich den Königskinderköpfen aus Straa, Relikte des 17.Jhd. Das Kleinhirn habe ich auf keiner Reise getroffen. Es ist ein Geschenk und jahrelanger Bestandteil meiner persönlichen Wunderkammer. Ein Wechselbild von wissenschaftlicher Darstellung und erotischem Körper: Kleinhirnvenus. Aber dreht man sie um ist es dann nicht ein Apoll?

In der Mythologie waren Venus und Apoll nie ein Paar, als Himmelskörper haben sie keine Berührungspunkte. Die Erde und die Venus kreisen um die Sonne. Die Schnittstelle liegt in unserer Vorstellung von ihrer Vollkommenheit als Repräsentanten ihres Geschlechts.

Alles weist auf eine Verortung im Barock, der doch so leicht, bewegt, lebensfroh bis zur Ekstase (Brockhaus) ist.

Der erste Blick täuscht. Die Königskinder enden im Tod.
Der Totenkult, die Herzurnen, der verzierte Sarkophagrahmen, die Krone als Symbol für Reichtum und irdische Macht, das Alpenveilchen führt zum Papst und zu Luise Rinsers Muttermord, aber nicht zur Erlösung.
Die heiteren Gobelinszenen sind fragmentarisiert, tanzen wie Gestirne umeinander, heiter ohne Berührung, einem Comic entflohen.

Aus Styropor, leicht und brüchig, als Verpackungs- und Dämmmaterial Schutzhülle gegen Kälte, Wärme Stoß und Schlag, wird kein prächtig üppiger Barock.

Leicht ist es, aber die Leichtigkeit des unbeschwerten glücklichen Lebens, der kleinen Prinzen und Prinzessinnen meiner Kindermärchen erlangen sie nicht.

Es war einmal ...... und ging immer gut aus.